Heideggers Philosophie: Der Mensch und das »Sein«

Heideggers Philosophie: Der Mensch und das »Sein«
Heideggers Philosophie: Der Mensch und das »Sein«
 
Unter den bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts ist Heidegger der umstrittenste: Während die einen ihn als einen großen Problemdenker verehren, der das Selbstverständnis und Weltverhältnis des Menschen in der Moderne radikal neu bedacht hat, sehen andere in ihm einen dunklen Prediger des Seins, der in schwer verständlicher Sprache einem unklaren Tiefsinn nachgehangen habe. Jenseits solch einseitiger Verehrung oder Ablehnung bleibt unbestreitbar, dass Heidegger einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gewesen ist, der weit über die akademische Philosophie hinaus gewirkt hat.Heidegger hat grundlegende Fragen des menschlichen Daseins mit außerordentlichem Nachdruck gestellt und in einer neuartigen Weise zu beantworten versucht: Was macht das menschliche Dasein aus? Was bedeutet es, dass der Mensch in der Welt ist? Worauf beruhen das Selbstverständnis des modernen Menschen und sein wissenschaftliches Weltverhältnis? Worin liegt es begründet, dass die Technik zur scheinbar allumfassenden Macht geworden ist? All diese Fragen lassen sich nach Heidegger zuspitzen auf die nach dem Verhältnis des Menschen zum »Sein«. Dieses Verhältnis hat er zum Grundthema seiner Philosophie gemacht und es in immer neuen Variationen zu formulieren versucht. Mit dem »Sein« meinte er freilich nicht irgendeine überzeitliche Wirklichkeit. Es war ihm gerade darum zu tun, die Zeitlichkeit des Seins selbst und besonders die Endlichkeit des menschlichen Daseins zu denken.
 
Es ist kein Zufall, dass Heideggers eigenständiges Philosophieren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg anhob; es trägt die Zeichen seiner Zeit: Die behagliche Selbstgewissheit des Bürgertums war zerstört, und die abendländische Kultur konnte nicht mehr als ein geschützter Bereich des Geistes genommen werden, in dem man vor den Gefahren des Lebens Zuflucht findet. Schon in den Vorkriegsjahren hatte der Expressionismus den unkonventionellen Ausdruck individueller Sichtweisen ins Zentrum gerückt; Kierkegaard und Dostojewskij wurden als Vertreter einer existenziellen Subjektivität neu entdeckt.
 
Heidegger nahm einerseits diese Anstöße auf, andererseits die methodischen Ansätze der Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl sowie der Hermeneutik Wilhelm Diltheys und entwickelte daraus seit Beginn der Zwanzigerjahre eine eigenständige Philosophie, die er »Hermeneutik der Faktizität« nannte. Der Ausdruck »Faktizität« besagt, dass der Mensch sein eigenes Dasein sich nicht selbst aussucht: Er findet sich seinem Dasein ausgesetzt, das durch Geburt, Erziehung, äußere Umstände und Zufälle bedingt ist. Welche Bedeutung seinem faktischen Dasein jeweils zukommt, ist von dessen Interpretation oder Auslegung abhängig. Die methodische Interpretation ist Sache der Hermeneutik als der »Kunst der Auslegung«. Heidegger machte Ernst mit der These, dass der Mensch, mit einer Formulierung von Charles Taylor, ein »sich selbst interpretierendes Tier« ist: Die Bedeutung seines Daseins ist dem Menschen weder vorherbestimmt noch frei von ihm hervorzubringen; sie verdankt sich vielmehr einer tätigen Auslegung dessen, was ihm unverfügbar vorgegeben ist.
 
1927 erschien Heideggers systematisch angelegtes, aber unvollendetes Hauptwerk »Sein und Zeit«, mit dem er in der breiteren Öffentlichkeit Berühmtheit erlangte. Darin analysierte Heidegger die Struktur des menschlichen Daseins und zunächst dessen Seinsverständnis, das sich gerade auch im alltäglichen Weltverhältnis zeigt. Freilich sollte die Analyse des Daseins lediglich als Vorbereitung dienen: Heidegger beabsichtigte »die Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein«, die für ihn die Grundfrage der Philosophie darstellt; die Untersuchung des menschlichen Daseins und Seinsverständnisses sollte den Zugang dazu eröffnen. Die »Analytik des Daseins« war Bestandteil der »Fundamentalontologie«, die Heidegger damals als die grundlegende Disziplin der Philosophie betrachtete.
 
Was jedoch die Leser von »Sein und Zeit« meist allein interessierte und nicht selten faszinierte, waren die eindringlichen Beschreibungen der menschlichen Existenz in ihrer Endlichkeit, die in der »Analytik des Daseins« enthalten sind. Das Wesen des Menschen bestimmte Heidegger entgegen der philosophischen Tradition nicht mehr als Bewusstsein oder Geist, sondern als Existenz; und in einer neuartigen, oft merkwürdigen Sprache kennzeichnete er die Grundzüge des Menschseins: Es ist vor allem »In-der-Welt-Sein«; zu ihm gehören ebenso die »Geworfenheit«, die geschichtliche Bedingtheit, wie der »Entwurf« der eigenen Seinsmöglichkeit, die Freiheit. Der Mensch versteht sich allerdings im alltäglichen Dasein aus dem, womit er zu tun hat, und nicht aus dem, was er selbst sein kann: Er existiert meist »uneigentlich«, ist an seine Welt »verfallen«, statt seine Existenz zu ergreifen.
 
Erst das Verhalten zum möglichen Ende des Daseins, zum Tod, erschließt dem Menschen sein »eigenstes Seinkönnen«, die »eigentliche« Existenz. Der Tod betrifft jedoch das Dasein nicht erst an seinem Ende, sondern bestimmt es grundlegend, da er ihm immer als Möglichkeit bevorsteht. Deshalb bezeichnet Heidegger das Dasein auch als »Sein zum Tode«. Das alltägliche Dasein verdeckt allerdings die Möglichkeit des Todes, indem es vor ihr ausweicht. Es gilt jedoch, seine Möglichkeit auszuhalten. Das eigentliche Verhalten zum Tode nennt Heidegger »Vorlaufen«. Nur in der Vorwegnahme des ganzen Daseins und in der Übernahme des Seins zum Tode ist die Wahl des eigentlichen Selbstseins, die »Entschlossenheit«, möglich. - Obwohl Heidegger immer wieder betonte, es gehe ihm nur darum, die existenziale Struktur des Daseins herauszuarbeiten, lasen sich seine Analysen wie ein existenzieller Apell zu einem Leben in »Eigentlichkeit«, und so wurden sie auch verstanden. Was denn aber inhaltlich ein solches eigentliches Leben auszeichnen sollte, blieb weitgehend im Dunkel. Ein zeitgenössischer Leser charakterisierte treffend die unbestimmt-drängende Wirkung von »Sein und Zeit«: »Wir alle waren entschlossen, aber keiner wusste wozu.«
 
Da Heidegger in seinem Hauptwerk keine inhaltliche Vorstellung von einem »eigentlichen« Dasein entwickelt hatte, konnten dessen formale Analysen mit den verschiedensten weltanschaulichen Überzeugungen verknüpft werden. So sah der protestantische Theologe Rudolf Bultmann in Heideggers Analysen eine treffende Beschreibung der Situation des Menschen, wie sie sich unabhängig von der göttlichen Offenbarung darstelle. Der Philosoph Herbert Marcuse hingegen, später ein Vordenker der Studentenbewegung von 1968, dachte Heidegger mit Marx zusammen und las aus seiner Schrift einen Aufruf zur revolutionären Tat heraus.
 
Heidegger selbst näherte sich zeitweise dem Nationalsozialismus an. Ohne dessen rassistischer Ideologie zu folgen, sah er doch in der »Bewegung« und ihrem Führer Hitler die Rettung vor der Gefahr des »Bolschewismus« und vor wirtschaftlichem Chaos. Mit den konservativen Intellektuellen seiner Zeit teilte er die Verachtung für die Weimarer Republik und überhaupt eine antidemokratisch-elitäre Haltung, die im »Amerikanismus« und »Bolschewismus« nur zwei Seiten derselben Nivellierungstendenz sah. So konkretisierte Heidegger die in »Sein und Zeit« entwickelte Konzeption entschlossenen Handelns, indem er für den Nationalsozialismus Partei ergriff und auf geistigem Gebiet, wie der Heidegger-Forscher Otto Pöggeler formulierte, »den Führer führen« wollte. Heideggers politisches Engagement währte freilich nicht lange; es wich einer philosophischen Distanz, wie zumindest der Wandel seiner Bewertung des Nationalsozialismus zeigt: Galt ihm dieser noch 1933 als Gegenbewegung zu der planetarischen Mobilmachung einer entfesselten Technik, so verstand er ihn etwa in seinen Nietzsche-Vorlesungen der Vorkriegs- und Kriegsjahre als den deutlichsten Ausdruck der »Seinsvergessenheit«.
 
Nach Kriegsende wurde Heidegger von den französischen Existenzialisten als Vorläufer ihres eigenen Denkens populär gemacht. Allerdings hat er 1946 in seinem »Brief über den Humanismus« die existentialistische Interpretation von »Sein und Zeit« als ein Missverständnis zurückgewiesen. Heidegger sah im Existenzialismus Sartres eine Reduktion der Wirklichkeit auf den Selbstentwurf des radikal freien Menschen. Ihm selbst ging es schon etwa ab 1930, der Zeit seiner »Kehre«, nicht mehr um die Betrachtung des menschlichen Daseins als solchen, sondern um das Bedenken des »Seinsgeschicks«: Was hat es zu bedeuten, dass der Mensch von dem schlechthin Unverfügbaren, nämlich vom »Sein«, in Anspruch genommen wird?
 
Diese Fragestellung brachte Heidegger dazu, schon in den Fünfzigerjahren über Grenzen technischer Machbarkeit nachzudenken. Die moderne Atomtechnologie deutete er als Ausdruck des epochalen Geschehens, in dem alles Wirkliche zum Gegenstand eines berechnenden und herstellenden Zugriffs wird. In seiner Spätphilosophie betonte er immer wieder, dass Wissenschaft und Technik für sich allein niemals über das menschliche Verhältnis zur Wirklichkeit bestimmen können. Sein eigenes Denken brach von Grund auf mit der Ansicht, Wissenschaft sei die einzig angemessene Form menschlicher Wirklichkeitsaneignung. Dass wissenschaftliche Methoden immer etwas als fraglos voraussetzen müssen, mit dem sie rechnend oder schließend operieren können, brachte Heidegger auf die provozierende Formel: »Die Wissenschaft denkt nicht.« Gegen die Alleinherrschaft des technischen Weltverhältnisses setzte der späte Heidegger auf ein »besinnliches« Denken, das die Nähe zur Dichtung und Kunst sucht. So wurde insbesondere der Dichter Hölderlin zu einer zentralen Figur seines Denkens. In dessen späten Hymnen sah Heidegger poetische Verdichtungen einer über das Technische hinausführenden Wirklichkeitsbeziehung. Auch das Schaffen van Goghs und das Spätwerk Cézannes begriff er als wesensverwandt.
 
Heidegger hinterließ ein umfangreiches Werk, das nach Abschluss der Gesamtausgabe mehr als 100 Bände umfassen wird. Die vielfältigen Wirkungen seines Denkens sind kaum noch zu überblicken. Über die Fachphilosophie hinaus hat Heidegger einen immensen Einfluss auf die Theologie beider Konfessionen und die Literaturwissenschaften, aber auch auf viele Schriftsteller, Dichter und bildende Künstler ausgeübt. Seine beharrliche Weigerung, wissenschaftliche Objektivität und Rationalität als Norm allen Wissens gelten zu lassen, hat ihn zu einem bleibenden Bezugspunkt zeitgenössischer Wissenschafts- und Kulturkritik werden lassen. Neokonservative Autoren fühlen sich von seiner Distanz zum demokratisch-egalitären Denken angezogen, während eben diese Distanz zusammen mit Heideggers Parteinahme für den Nationalsozialismus anderen zum Anlass entschiedener Ablehnung wird. Die polarisierende Wirkung von Leben und Werk ist wohl der auffälligste Aspekt seiner enormen Wirkungsgeschichte, die in diesem Jahrhundert nur noch mit der von Ludwig Wittgenstein verglichen werden kann.
 
Dr. Matthias Jung
 
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.
 
Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 1996—98.
 Wuchterl, Kurt: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl zu Heidegger. Eine Auswahl. Bern u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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